Praxis der Klärungsorientierten Psychotherapie

Therapeutische Regeln in der Klärungsorientierten Psychotherapie

• Komplementäre Beziehungsgestaltung: Plananalyse und Klärungsorientierte Psychotherapie

Klärungsprozesse: Was soll im Therapieprozess wie geklärt werden?

Bearbeitung von Schemata im Ein-Personen-Rollenspiel

Die Bearbeitung von Vermeidung in der Klärungsorientierten Psychotherapie

Focusing: Eine Therapietechnik zur Repräsentation affektiver Schemata

Interaktionsschwierigkeiten im Therapieprozess bei Klienten mit narzisstischer und histrionischer Persönlichkeitsstörung

Komplementäre Beziehungsgestaltung: Plananalyse und Klärungsorientierte Psychotherapie
Rainer Sachse

1 Komplementäre Beziehungsgestaltung in der Plananalyse

Nach dem Konzept der von Franz Caspar entwickelten "Plananalyse" bedeutet "komplementäre Beziehungsgestaltung", dass sich ein Therapeut komplementär zur Planstruktur eines Klienten verhält (Caspar, 1986, 1987, 1989; Caspar & Grawe, 1982a, 1982b, 1992, 1996; Grawe & Caspar, 1984).

Der Begriff "komplementär" kann im Sinne von "bedürfnisbefriedigend" oder "motivbefriedigend" verwendet werden: Sich einem Klienten gegenüber komplementär zu verhalten, bedeutet, dass ein Therapeut im Rahmen der therapeutischen Regeln wichtige Motive des Klienten in der Interaktion mit diesem Therapeuten befriedigt.

Im Plananalyse-Konzept bedeutet "komplementär" motivationstheoretisch genaugenommen, dass sich ein Therapeut zu den impliziten oder expliziten Zielen des Klienten befriedigend verhält: Dass der Therapeut wichtige interaktionelle Ziele eines Klienten "bedient" (vgl. Scheffer, 2009).

Die "Planstruktur" basiert auf dem Plan-Konzept von Miller, Galanter & Pribram (1960) und geht davon aus, dass Personen eine hierarchische Struktur von Zielen aufweisen, wobei die Ziele auf einer unteren Planebene den Zielen auf einer höheren Ebene dienen und eine Konkretisierung oder "Operationalisierung" höherer Ziele darstellen. Dabei können Ziele auf einer unteren Planebene gleichzeitig mehreren Zielen auf einer höheren Ebene dienen: Auf diese Weise ergibt sich eine Netzwerkstruktur von Zielen, die ein hohes Ausmaß von Komplexität annehmen kann. Bei der Plananalyse versucht ein Therapeut, aus den vom Klienten gegebenen Informationen, insbesondere aber aus dem konkreten Interaktionsverhalten mit dem Therapeuten, die interaktionellen Ziele eines Klienten zu erschließen und daraus eine komplexe Netzwerkstruktur von Zielen zu erschließen. Ist dem Therapeuten dies gelungen, versucht der Therapeut, sich nach den höchsten "Plänen" des Klienten komplementär zu verhalten, also eine Beziehungsgestaltung so abzustimmen, dass der Klient seine Pläne in der Interaktion mit dem Therapeuten möglichst realisieren kann. Durch die "interaktionelle Sättigung" der Pläne in der therapeutischen Interaktion werden die Pläne für den Klienten weniger relevant und das durch diese Pläne gesteuerte Interaktionsverhalten lässt nach.

Die Erstellung einer Plananalyse ist ein hoch komplexer Vorgang, der vom Therapeuten viel Zeit, viel Einfühlungsvermögen und viel kreative Rekonstruktionsarbeit erfordert; dafür enthalten dann die angefertigten Plananalysen auch sehr viel Information über die Klienten.

2 Komplementäre Beziehungsgestaltung nach Beziehungsmotiven

2.1 Zentrale Beziehungsmotive

Bei der Analyse des Interaktionsverhaltens von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen entwickelte Sachse (1997, 2000, 2001a, 2001b, 2003, 2006a, 2006b) das Konzept der Beziehungsmotive, das auch gerade bei der Behandlung von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen relevant ist (Sachse et al., 2010, 2011, 2012).

Dabei wird angenommen, dass Personen im Hinblick auf die Beziehung zu anderen Personen bestimmte Motive haben, die sie in der Interaktion mit relevanten Partnern befriedigen möchten. Dabei möchten sie, dass andere durch ihr Beziehungsverhalten ihnen motivrelevante Informationen geben.

Man kann sechs zentrale Beziehungsmotive unterscheiden: Jeweils zwei Beziehungsmotive sind ähnlich: Bei den Motiven wird davon gesprochen, dass Personen bestimmte "Informationen" möchten. Das darf man nicht missverstehen.

Die Personen wollen vom Interaktionspartner bestimmte Inhalte explizit (verbal) oder implizit (nonverbal) mitgeteilt bekommen, aber eigentlich sind diese Informationen aus motivations-theoretischer Sicht "Futter".

Würde es sich um reine "Informationen" handeln, dann hätte eine ständige Wiederholung der Inhalte durch den Partner bald keinen "Informationswert" mehr und wäre überflüssig und würde irrelevant. Aus motivationstheoretischer Sicht bedeutet die Mitteilung relevanter Informationen aber eine Motivbefriedigung und wird damit weder "redundant" noch irrelevant: Ähnlich wie man heute auch wieder Nahrung braucht, obwohl man gestern schon gegessen hat und auch lägst weiß, wie die Lebensmittel schmecken, so ist auch der Inhalt einer "Anerkennungsbotschaft" heute wieder gut zu hören, obwohl man sie gestern schon bekommen hat und obwohl man ihre Inhalte im Prinzip längst kennt.

Daher sind alle motivrelevanten Botschaften nicht "Informationen" im informationstheoretischen Sinne, sondern Futter im motivationstheoretischen Sinne: Dies muss man im Bewusstsein behalten, auch wenn hier oft von "Informationen" die Rede ist.

Motivationstheoretisch gesehen definieren wir hier "echte" Motive, also psychologische Strukturen, die eher auf einem impliziten Niveau funktionieren und deren daraus abgeleitete Ziele Annäherungsziele sind, also Ziele, deren Erreichung mit positiven Affekten verbunden ist (vgl. Ebner & Freund, 2009; Elliot, 1999).

Aus diesem Grund definieren wir z.B. auch "Kontrolle" nicht als Beziehungsmotiv, denn Kontrolle ist, motivationstheoretisch gesehen, ein Vermeidungsziel, also ein Ziel, dessen Erreichung zum Wegfall negativer Affekte oder Emotionen führt.

Zum Verhältnis der sechs Beziehungsmotive zu den drei "klassischen" Motiven der Motivationspsychologie Leistung, Anschluss und Macht siehe Langens (2009).

Im Einzelnen kann man die Motive folgendermaßen definieren (vgl. Sachse, 2006a):

1. Anerkennung
Das Motiv nach Anerkennung bedeutet, dass die Person von Interaktionspartnern positives Feedback über die eigene Person erhalten möchte.

Sie möchte Information darüber erhalten, Dabei legen unterschiedliche Personen unterschiedlich großen Wert auf bestimmte Arten von Eigenschaften. In unserer Kultur geht es dabei primär um zwei Arten von Eigenschaften: Will eine Person positives Feedback über eigene Fähigkeiten erhalten, dann will sie Information darüber, dass sie z.B. oder sie möchte Informationen, die alle möglichen Varianten dieses Themas betreffen. Möchte eine Person positives Feedback über eigene Attraktivität, dann möchte sie z.B. Informationen darüber, oder Informationen über andere Varianten des Themas.

Bei Anerkennung geht es damit um eine Art von "absolutem Feedback": Es geht darum, als Person absolut beurteilt zu werden, Feedback darüber zu erhalten, "wie man (an sich) ist". Die zentrale Frage ist also: Wie bin ich?

Und die Person, die dieses Feedback will, schätzt es als umso wertvoller und relevanter ein, je mehr sie glaubt, dass der Feedback-Geber die eingeschätzten Eigenschaften wirklich valide beurteilen kann: Feedback über intellektuelle Fähigkeiten, das von einem Professor kommt, ist mehr wert als das, welches von einem "Peer" kommt.

Was eine Person mit hohem Anerkennungsmotiv gar nicht möchte sind alle Formen von persönlicher Abwertung, also Botschaften von: Derartige Botschaften frustrieren das Beziehungsmotiv Anerkennung und lösen bei der Person negative Affekte und Emotionen aus.

2. Wichtigkeit
Das Motiv nach Wichtigkeit bedeutet, dass eine Person Feedback darüber möchte, dass sie im Leben eines Interaktionspartners eine wichtige Rolle spielt.

Sie möchte damit Informationen über ihre persönliche Bedeutung, die sie für andere hat.

Andere Personen sollen ein Feedback geben der Art: Wichtigkeit drückt sich in einer Reihe interaktioneller Ziele aus, d.h. wenn man wichtig sein will, dann bedeutet das in konkreten Situationen z.B., dass Wichtigkeit ist gewissermaßen "relational" definiert: Hier geht es nicht um ein Feedback über die Person an sich (wie bei Anerkennung), sondern um ein Feedback über die Person in Relation zu einer anderen Person: Die Person will eine Information darüber, wie andere zu ihr stehen, welchen Stellenwert sie als Person für andere hat. Die zentrale Frage ist: Was bedeute ich anderen? Und das Feedback von Wichtigkeit ist besonders wesentlich von Personen, die der Person selbst wichtig sind: Das Feedback, wichtig zu sein, ist bedeutsamer von einem Partner, der der Person selbst sehr wichtig ist, als von einem Kollegen, der der Person selbst weit weniger wichtig ist.

Beziehungsbotschaften, die das Motiv Wichtigkeit frustrieren, sind z.B.: 3. Verlässlichkeit
Das Motiv nach Verlässlichkeit bedeutet, dass die Person von einem Interaktionspartner Feedback darüber bekommt, dass die Beziehung dieser Person zu ihr stabil, beständig und belastbar ist.

Die Person möchte also Informationen der Art erhalten: Viele dieser Botschaften werden von Interaktionspartnern gar nicht verbal/explizit vermittelt, sondern durch Handlungen: Botschaften, die das Motiv Verlässlichkeit frustrieren, sind: 4. Solidarität
Das Motiv nach Solidarität bedeutet, dass eine Person von einem Interaktionspartner Feedback darüber bekommt, dass dieser an der Seite der Person steht und die Person unterstützen wird, wann immer diese es benötigt.

Die Person möchte Information darüber, dass der Partner Die Person möchte Gewissheit darüber haben, dass der Partner dem Satz zustimmt: "Wenn ich Dich brauche, dann kommst Du."

Solidarität wird vor allem durch Handlungen demonstriert: Der Partner gibt Solidaritätsbotschaften, in denen er wirklich kommt, wenn er gebraucht wird, indem er wirklich an der Seite des Partners steht, wenn dieser Probleme hat usw.

Botschaften, die das Motiv Solidarität frustrieren, sind z.B.: 5. Autonomie
Das Motiv nach Autonomie bedeutet, dass eine Person von einem Interaktionspartner das Feedback bekommen möchte, dass sie auch in der Beziehung eigene Entscheidungsbereiche haben kann, die der Partner uneingeschränkt akzeptiert.

Die Person möchte eigene Bereiche definieren können, in denen sie selbst entscheiden kann, was sie tun will, wie sie Aspekte gestalten will u.ä.

Z.B. will eine Person Autonomie bedeutet hier also eine Selbstbestimmung im Sinne des Treffens eigener Entscheidungen und damit "das Leben von Freiheitsgraden": Die Person will damit Bereiche, in denen sie nicht vom Partner determiniert wird, in denen ihr keine Vorschriften gemacht werden, in die "keiner reinfummelt".

Und sie möchte vom Partner Signale dahingehend, dass solche Bereiche "erlaubt" werden, ok sind, Konsens sind.

Botschaften, die das Autonomie-Motiv frustrieren, sind z.B.: Nach der Reaktanz-Theorie von Brehm (1968, 1972; Gniech & Grabitz, 1984; Wicklund, 1974) erzeugt eine erlebte Einschränkung von Freiheit bei Personen Reaktanz, also eine "Gegen-Tendenz", sich nun erst recht nicht einschränken zu lassen. Man kann annehmen, dass Personen, die ein hohes Autonomie-Motiv aufweisen, besonders empfindlich auf alle (erlebten) Einschränkungen von Autonomie reagieren sollten: Wir nennen solche Personen "reaktanz-empfindlich". Diese Personen reagieren dann auch im Therapieprozess auf alle erlebten Einschränkungen ihrer Freiheitsgrade besonders stark reaktant: Und da Reaktanz das Gegenteil von Compliance ist, ist ein solches Klienten-Verhalten nicht besonders günstig für den Fortschritt der Therapie.

6. Grenzen/Territorialität
Das Motiv nach Grenzen/Territorialität bedeutet, dass eine Person von einem Interaktionspartner das Feedback erhalten möchte, dass die Person eine eigene Domäne definieren dar, die durch eine Grenze bestimmt wird und dass sie selbst bestimmen darf, wer über diese Grenze gehen und wer was im Territorium tun dar.

Definiert man einen bestimmten Lebensbereich als "meine Domäne" (z.B. "mein Zimmer", "mein Auto", "mein Schreibtisch", "mein Körper"), dann weist diese Domäne immer ein bestimmtes (physikalisch definierbares) Territorium auf und sie weist immer eine bestimmbare Grenze auf.

Aus der Sicht einer Person können diese beiden Aspekte jedoch unterschiedlich wesentlich sein: Eine Person mit diesem Motiv möchte Botschaften wie: Im Einzelfall kann es um Botschaften der Art gehen: Botschaften, die das Motiv Grenzen/Territorialität frustrieren, sind z.B.: 3 Komplementarität zu Beziehungsmotiven im Therapieprozess

Ein Therapeut kann sich nun im Therapieprozess zu den Beziehungsmotiven eines Klienten komplementär verhalten: Das bedeutet, dass er versucht, durch sein Interaktionsverhalten das jeweilige Beziehungsmotiv im Rahmen der therapeutischen Regeln so gut wie möglich zu "füttern". Dies hat einige Implikationen.

1. Klientenmodell
Während ein Therapeut im Therapieprozess Strategien einer allgemeinen Beziehungsgestaltung (wie Akzeptieren, Wärme, Signalkongruenz etc.) praktisch immer realisieren kann, d.h. auch dann, wenn er den Klienten noch gar nicht kennt, kann er sich erst dann komplementär zu einem Beziehungsmotiv verhalten, wenn er das relevante Beziehungsmodell des Klienten auch tatsächlich rekonstruiert hat. Da ein Therapeut sich immer gezielt und intentional zu dem zentralen Beziehungsmotiv des Klienten komplementär verhalten soll, muss der Therapeut dieses vorher aus der vom Klienten kommenden Information valide erschlossen haben: Der Therapeut muss also bereits über ein Modell vom Klienten verfügen (vgl. Sachse, XXX). Und die Rekonstruktion sollte zutreffend sein: Denn wenn ein Therapeut sich z.B. zum Anerkennungsmotiv komplementär verhält, der Klient jedoch ein zentrales Wichtigkeitsmotiv aufweist, dann wirkt das Therapeuten-Handeln nicht komplementär, d.h. der Therapeut baut keinen Beziehungskredit auf. Aus diesem Grund kann sich ein Therapeut somit auch nicht sofort komplementär verhalten, sondern erst, wenn er diesen Aspekt im Modell repräsentiert hat (was er aber manchmal schon in der ersten Stunde, meist aber bis zur dritten Stunde kann).

2. "Im Rahmen der therapeutischen Regeln."
Komplementäres Handeln des Therapeuten ist kein Selbstzweck: Es dient dazu, beim Klienten Vertrauen zum Therapeuten aufzubauen, also "Beziehungskredit" zu schaffen.

Der Therapeut verfolgt parallel dazu noch weitere therapeutische Ziele wie Modellbildung, Klärung, Aufbau von Änderungsmotivation, Bearbeitung von Vermeidung etc. Und der Therapeut verfolgt weitere Ziele wie z.B. "Bearbeitung von Schemata".

Alle parallel verfolgten und alle späteren Prozessziele will der Therapeut durch sein Handeln nicht sabotieren, sondern er will ihre Verfolgung durch sein Handeln verbessern. Dadurch muss er die Komplementarität auch so realisieren, dass dies gewährleistet wird.

Ein wesentlicher Aspekt ist, dass trotz aller Komplementarität deutlich bleibt, dass die Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine therapeutische Beziehung ist und bleibt.

Das Problem kann man besonders klar machen an einer Komplementarität zum Wichtigkeitsmotiv: Eine Klientin ist für den Therapeuten als Klientin wichtig und nicht als (potentielle) Partnerin: Also kann er der Klientin nur solche Wichtigkeitssignale geben, die genau das deutlich machen; er kann ihr aber nicht signalisieren: "Ich kann ohne Sie nicht leben." (zumindest sollte er das besser lassen, wenn er nicht in Probleme kommen will!). Das meint: "Komplementarität innerhalb therapeutischer Regeln": In der Therapie muss ein Therapeut bestimmte Inhalte der Komplementarität realisieren und kann bestimmte Inhalte nicht senden.

3. Manipulatives Handeln
Bei der Konzeption von Persönlichkeitsstörungen hat Sachse (1997) zwei Handlungsebenen unterschieden:

1. Die authentische Handlungsebene, auf der die Person so handelt, dass ein Partner die interaktionellen Ziele der Person durchschauen kann.

2. Die manipulative Handlungsebene, auf der die Person ihre tatsächlichen interaktionellen Ziele in ihrem Handeln verschleiert oder andere Ziele vorgibt, sodass der Partner die tatsächlichen Ziele nur schwer oder gar nicht erkennen kann.

Mit "manipulativen Handlungen" ist keine Abwertung gemeint, sondern nach der Theorie des "social impression management" (Tedeschi et al., 1973, 1985; Tedeschi & Norman, 1985; Tedeschi & Riess, 1981) ein (sozial kompetentes) normales Interaktionsverhalten, das im Grunde jeder realisiert, das aber Klienten mit Persönlichkeitsstörungen in einem so hohen Ausmaß zeigen, dass es ihnen interaktionelle Kosten erzeugt. Und da es (potentiell) Kosten erzeugt, sollten Therapeuten dieses Verhalten eher transparent machen und mit dem Klienten an seiner Veränderung arbeiten; sie sollten dieses Verhalten aber möglichst nicht im therapeutischen Interaktionsprozess bekräftigen. Daher sollte sich ein Therapeut möglichst nicht zu manipulativen Handlungen des Klienten komplementär verhalten.

Aus diesem Grunde unterscheiden wir zwei Vorgehensweisen:

1. Therapeuten sollten sich zu den zentralen Beziehungsmotiven der Klienten komplementär verhalten, denn dadurch gewinnen sie in sehr hohem Maße Beziehungskredit.

2. Therapeuten sollten sich zu manipulativem Handeln des Klienten möglichst nicht komplementär verhalten, denn dadurch können sie ungünstiges Interaktionsverhalten verstärken.

Strategien zum Erkennen manipulativen Handelns stellen Sachse et al. (2010) dar; sie diskutieren auch Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel.

4 Komplementäres Handeln zu den zentralen Beziehungsmotiven

Wenn ein Therapeut komplementär zu den zentralen Beziehungsmotiven des Klienten handelt, dann bedeutet das im Grunde immer zweierlei:

1. Der Therapeut sollte durch ein interaktionelles Handeln das jeweilige Klienten-Motiv befriedigen, es also (im Rahmen der therapeutischen Regeln!) "füttern".

2. Und der Therapeut sollte versuchen, Handlungen zu unterlassen, die das Beziehungsmotiv des Klienten frustrieren.

Diese beiden Seiten des komplementären Handelns sollen nun genauer beschrieben werden.

1. Komplementarität zum Anerkennungsmotiv
Den Klienten zu akzeptieren und respektvoll zu behandeln ist im Grunde schon eine Komplementarität zum Anerkennungsmotiv. Der Therapeut signalisiert dem Klienten damit: Solche allgemeinen Signale sind zwar in Ordnung, sie reichen jedoch bei einer Person mit hohem Anerkennungsmotiv auf keinen Fall aus: Diese Person will ja gerade spezielles Feedback darüber, wie positiv sie ist. Daher ist sie auch keineswegs damit zufrieden zu hören, sie sei "ok, weil sie ein Mensch" sei oder in Grundgesetz stehe schon: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" oder ähnliches. Man muss sich klarmachen, dass man einem Menschen, der ein bestimmtes Motiv hat, nicht mit philosophischen Überlegungen kommen kann: Man kann einem Hungrigen auch nicht erzählen, wie gesund Fasten sei; er will vielmehr gefüttert werden! Und so geht es dem Klienten auch: Er will vom Therapeuten genau die positive Information hören, die er braucht!

Wenn der Klient im Leistungsbereich gefüttert werden will, dann sollte der Therapeut ihm alle Informationen geben, die er authentisch geben kann: Wiederum hat das "Füttern" ein paar Implikationen:

1. Authentizität: Sie sollten den Klienten nur mit solchen Botschaften füttern, die sie als Therapeut guten Gewissens geben können: Also sagen Sie, dass Sie beeindruckt sind, wenn sie beeindruckt sind; sagen Sie, die Leistung ist gut, wenn Sie nach den Standards des Klienten auch gut ist usw. Geben Sie aber kein Feedback, zu dem Sie nicht stehen, denn sonst drohen Sie, signalinkongruent und damit unecht zu wirken und dann verlieren Sie Ihre Glaubwürdigkeit.

2. Persönliche Einschätzungen: Beachten Sie, dass Sie hier Beziehungsbotschaften geben und keine Realitätsaussagen machen: Also formulieren Sie Ihre Rückmeldung immer als Ihre Einschätzung und nicht als "die Realität".

3. Kein Unterstatement: Formulieren Sie Ihre Rückmeldung so positiv wie Sie es vertreten können und machen Sie keine Understatements: Denn je positiver das Feedback ist, desto "nahrhafter" ist es für den Beziehungskredit.

Es ist nicht wahrscheinlich, aber sollte ein Klient Ihre Aussage übertrieben finden, dann bleiben Sie dabei, indem Sie z.B. sagen: "Ich merke, dass Sie noch zu bescheiden sind, um dies genauso zu sehen, aber ich finde, das haben Sie toll gemacht."

Geht es um Attraktivität, dann ist das Füttern schwieriger, denn Attraktivität ist ein extrem subjektives Konstrukt, sodass es schwer ist, dieses "objektiv" zu beurteilen. Außerdem wäre es unangemessen als Therapeut einer Klientin zu sagen, dass dieser sie für "sehr attraktiv" hält: Damit steht man als Therapeut in der Gefahr, die therapeutische Rolle zu verlassen und grenzüberschreitend zu sein.

Hier sollte man möglichst gar nicht Stellung nehmen und nur deutlich machen, Um das Anerkennungsmotiv nicht zu frustrieren, sollte der Therapeut jegliche Art von Abwertung unterlassen: 2. Komplementarität zum Wichtigkeitsmotiv
Ein Therapeut kann einem Klienten, der ein hohes Wichtigkeitsmotiv aufweist, nicht signalisieren, dass er in seinem Leben eine wichtige Rolle spielt oder dass er ohne ihn nicht leben kann (ich denke, es ist nicht erforderlich, dies zu begründen).

Ein Therapeut kann jedoch vieles andere signalisieren: Die Komplementarität zum Anerkennungsmotiv wird vor allem explizit verbal vermittelt; dagegen wird die Komplementarität zum Wichtigkeitsmotiv in hohem Maße implizit nonverbal vermittelt: Der Therapeut konzentriert sich völlig auf die Klienten, versucht, alles mitzubekommen, viele Signale zu geben von "ich bin da, ich höre zu, ich bin total aufmerksam, ich nehme Sie völlig ernst" u.ä. Während der Therapiestunde ist der Klient für den Therapeuten das Zentrum des Erlebens und Handelns und das genau muss der Klient spüren.

Um das Wichtigkeitsmotiv nicht zu frustrieren, sollte ein Therapeut Folgendes möglichst nicht tun: 3. Komplementarität zum Verlässlichkeitsmotiv
Sich im Therapieprozess zum Verlässlichkeitsmotiv komplementär zu verhalten, ist nicht einfach, denn "Verlässlichkeit" ergibt sich im Grunde vor allem aus dem Fehlen von Beziehungsabbruch-Bedrohungen: Daher kann ein Therapeut eher über die Zeit hinweg deutlich machen, dass er die Beziehung als stabil ansieht; er kann aber nur schwer diese Botschaft durch gezielte Interventionen vermitteln.

Der Therapeut kann deutlich machen, Selbst wenn der Klient sich nicht von sich aus traut, die Belastbarkeit der Beziehung zu testen, kann der Therapeut dies durch Konfrontationen deutlich machen: Er konfrontiert den Klienten und macht dabei gleichzeitig klar, dass Um das Verlässlichkeitsmotiv nicht zu frustrieren, sollte ein Therapeut 4. Komplementarität zum Solidaritätsmotiv
Solidarität des Therapeuten mit dem Klienten im Rahmen der therapeutischen Regeln bedeutet, dass der Therapeut im Hinblick auf ein Prozessziel auf der Seite des Klienten steht: Es geht dem Therapeuten darum, dass es dem Klienten letztlich besser geht, dass er besser als bisher mit Situationen und Anforderungen umgehen kann. "Auf der Seite des Klienten zu sein" bedeutet dann auch, den Klienten konfrontieren zu können, wenn dies dem Klienten nützen kann.

Der Therapeut sollte den Klienten durch seine therapeutische Arbeit erkennen lassen, Der Therapeut kann solche Aspekte bei Klienten mit hohem Solidaritätsmotiv auch explizit deutlich machen, z.B. durch Statements wie: Auf diese Weise macht der Therapeut explizit deutlich: Egal, ob der Klient vom Richter geschickt wird, vom Arbeitgeber, von einem Partner oder wem auch immer: Der Therapeut ist niemals Erfüllungsgehilfe einer dritten Macht gegen den Klienten!

5. Komplementarität zum Autonomie-Motiv
Autonomie-Botschaften sind solche, die dem Klienten Entscheidungsfreiheiten geben bzw. Entscheidungen erlauben.

Nun haben Interventionen, zwar in unterschiedlich hohem Ausmaß, jedoch fast durchweg einen direktiven, steuernden Charakter. Und dies kann eine Person mit hohem Autonomie-Motiv bereits als Einschränkung ihrer Freiheitsgrade auffassen.

Daher bedeutet eine Komplementarität zum Autonomie-Motiv, dass ein Therapeut dem Klienten explizit Botschaften gibt, die widerspruchsermöglichend (Fiedler, 1981) sind, z.B.: Therapeutisch ist es prinzipiell wesentlich, dass Therapeuten den Klienten-Prozess konstruktiv steuern (Sachse, 2003), daher sollten die Therapeuten den Klienten nur dann derart hohe Freiheitsgrade einräumen, wenn die Klienten dies benötigen: Viele Klienten wollen jedoch gesteuert werden und das sollte ein Therapeut dann auch tun. Bei Klienten mit hohem Autonomie-Motiv stößt man aber mit Steuerung schnell "an die Kante des Möglichen": Das bedeutet dann für den Therapeuten, dass er sich stärker komplementär verhalten muss.

Um das Autonomie-Motiv nicht zu frustrieren 6. Komplementarität zum Grenzen/Territorialitätsmotiv
Komplementarität bedeutet hier, dass ein Therapeut versuchen sollte, nicht ungefragt bzw. nicht ohne Erlaubnis des Klienten bestimmte Inhaltsbereiche anzusprechen: Eine Frage kann vom Klienten als "grenzüberschreitend" wahrgenommen werden ("das geht den Therapeuten nichts an"), aber auch schon Verbalisationen können "zu weit gehen".

Das Problem zu Beginn der Therapie kann darin liegen, dass ein Therapeut die "Grenz-Definitionen" des Klienten noch nicht kennt (und nicht kennen kann) und daher durch Interventionen manchmal völlig unbeabsichtigt "zu weit geht".

Daher sollte ein Therapeut, wenn er bemerkt, dass ein Klient eine Grenze markiert, deutlich machen: "Es ist völlig ok, wenn Sie Grenzen setzen und deutlich machen, dass Sie bestimmte Dinge noch nicht ansprechen möchten. Ich möchte Ihre Grenzen auch respektieren und sie nicht überschreiten. Ich werde mich auch bemühen, dies nicht zu tun. Aber ich bin kein Telepath und daher weiß ich manchmal nicht, wo eine Grenze ist. Sollte ich deshalb eine Grenze überschreiten, bitte ich Sie um Entschuldigung und ich bitte Sie, mir das deutlich zu machen. Ich werde das dann sofort respektieren."

Um eine Frustration des Motivs Grenzen/Territorialität zu vermeiden 5 Vereinbarkeit der beiden Komplementaritätskonzepte

Die beiden Konzepte der Komplementarität schließen sich nicht aus, sondern können einander ergänzen. Man kann annehmen, dass ein komplementäres Handeln des Therapeuten nach Beziehungsmotiven ein eher globales, zwar auf den Klienten abgestimmtes Handeln ist, das aber eher übergreifende Motive relativ breit "bedient".

Dagegen ist ein komplementäres Handeln auf der Planebene ein eher spezifisches, auf (sehr) konkrete Ziele des Klienten abgestimmtes Handeln.

In dieser Sichtweise würden die beiden Konzepte von Komplementarität unterschiedliche "Konkretisierungsgrade" betreffen und sich auf unterschiedlichen "Ebenen" des Motivgeschehens bewegen. Dabei benötigt ein Therapeut allerdings umso mehr spezifische Information über den Klienten, je spezifischer er komplementär handeln will; umgekehrt kann er umso eher im Therapieprozess komplementär handeln, je "globaler er ansetzt". So hat jede Vorgehensweise ihre Vorzüge und ihre Anforderungen.

Deutlich wird damit aber, dass beide Vorgehensweisen sich in gar keiner Weise ausschließen, sondern sich gut ergänzen können.


Literatur

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